Amerika

 

Immer wieder wundere er sich darüber: „ Je mehr Bildung ihr Deutschen mitkriegt, desto weniger selbstbewusst werdet ihr.“ Andrew ist als Sohn kanadischer Eltern in Indonesien aufgewachsen, später sind sie zurück nach Kanada gegangen.

Ich traf Andrew an einer Universität in Montréal, wir studierten dort im gleichen Labor. Ich forschte dort für zwei Monate an meiner Diplomarbeit.

 

Was mir für Gedanken durch den Kopf gegangen waren, bevor ich nach Nordamerika aufbrach. Die Leute werden entsetzlich oberflächlich sein, sich ständig über die Grandiosität ihres Landes auslassen, überall Terroristen wittern und auf alles schießen, was sich bewegt. Gut, in Kanada wird es wohl etwas zurückgelehnter zugehen als in den USA, aber das Essen wird trotzdem schlecht sein und die Leute werden zuviel Fernsehen.

Und fast so kam es dann auch. Wenn da nicht trotz alledem diese faszinierende Unbeschwertheit gewesen wäre. Bush’sches Säbelgerassel hin und dummdreister Militarismus her. Ich fühlte mich dort als Deutscher besonders willkommen, sowohl in Kanada als auch in den USA. „Ah ja, Deutsche, die sind immer so zurückhaltend und schlau.“, hieß es da respektvoll. Augenzwinkernd und merkwürdigerweise ganz ohne Häme fragte man mich auch mal, warum ich denn nicht so ein typisches Oberlippenbärtchen trüge. Echte Kenner wollten vielleicht noch wissen, aus welchem Teil Deutschlands ich käme. Auf meine Antwort „Südlich, aus den Bergen“ wussten sie sich dann aber keinen rechten Reim zu machen. Aber das war auch ganz egal, jetzt war ich ja hier und das alte Europa fern.

Hier, auf der anderen Seite des Atlantiks, wohin sich bis heute Menschen aus allen Kulturen der Erde flüchten.

An der Universität bei der Drop-in-Recreation Volleyball fällt es mir zum ersten Mal besonders deutlich auf. Nordamerika ist eine Arche für Menschen aller Länder, insbesondere für die Leistungsversessenen. Ich treffe Menschen aus dem Iran, aus Korea, China, Pakistan, Deutschland, Tschechien, Russland, dem Irak und  aus Japan. Am Anfang spiele ich schlecht und niemand beachtet mich. Dann plötzlich, nach ein, zwei gelungen Schmetterbällen beginnt man sich für mich zu interessieren. Schlagartig stellt man sich mir vor und will meinen Namen wissen. Kein Neid und keine Missgunst, sondern geteilte Freude über die gute Leistung. In der folgenden Woche erinnert man sich nicht mehr an mich. Gnade Gott den Erfolglosen in diesem Land.

Einige Wochen später fahre ich mit dem Bus in die USA. Es regnet in Strömen, als wir die Grenze erreichen. Dunkel uniformierte Männer mit schwarzen Handschuhen kommandieren einen in kompromisslos-selbstbewußter Manier herum. Diesen Ton kenne ich in deutscher Sprache bloß aus schwarz-weiß Filmen von Leuten mit ruckartigen Bewegungen.

Als ich schließlich abgefertigt werde, befindet ein weißhaariger Grenzer, dass ich ihm ins Hinterzimmer folgen soll, nachdem er hochkonzentriert meinen Pass studiert hat.

An einer Theke erwartet mich eine ganze Gruppe weiterer Grenzbeamten. Ich bekomme ein Formular. In einwandfreiem Deutsch werde ich dort nach möglichen Inkorrektheiten gefragt. Ob ich von 1933 bis 1945 mit deutschen Nazis paktiert habe oder ob ich Terrorist sei. Ich kreuze jeweils „nein“ an.

In welcher Sprache mein Geburtsort und das Land anzugeben sei, frage ich. „Was immer ihnen am besten passt.“

Ich bezahle sechs Dollar und werde entlassen. Verdutzt trete ich aus der Homeland-Security-Vorhalle in die USA ins Freie.

Da stehe ich plötzlich im Lande der Weltenkaiser. Der erste Eindruck schmeckt nicht nach Blut oder Metall. Vielleicht ein wenig nach Größenwahn, aber vor allem nach Pepsi für alle. Weiße Sternchen auf blauem Grund funkeln mich von überallher an. Metall schmecke ich erst, als mich einige Stunden später ein Schild vor einer Raststätte daraufhin weist, keine Faustfeuerwaffen hineinzubringen.

Irgendwann erreicht der Bus New York. Ewigkeiten ist der Bus durch Straßenzüge gerollt, in denen dicht gedrängt Menschen zu sehen sind, aber kein einziger Weißer. Und je näher man dem Stadtzentrum kommt, desto bunter, greller und exotischer wird der Anblick. Jede nur erdenkliche Ethnie ist zu sehen. Aber so verschieden die Menschen auch aussehen, sie alle scheint eine Idee zu einen: Du bist, was Du machst. Egal wo Du herkommst, egal was Deine Eltern sind und egal was Dich in den Winkeln Deiner Seele abwärts zieht.  Du bist frei! Wenn Du nur willst, so streck’ Deine Glieder,  streck’ sie wohin immer Du willst, streck’ sie zu den Sternen, zu den fernsten Galaxien, tu’ es einfach! Du schaffst es!

Welche Verheißung für einen von geplatzten Träumen, gescheiterten Ideologien und erstarrten Mitmenschen gebeutelten Alt-Weltler. Welche Befreiung, den verworrenen Dschungel tragischer Irrtümer hinter sich zu lassen und ihn gegen eine Welt einzutauschen, in der man vollkommen Recht haben kann! Auch Du kannst mitmachen, jeder kann es, Du musst nur „ja!“ sagen,  schon weicht der schwere Dunst der widersprüchlichen Enge der unermesslichen Klarheit und Weite einer ungebrochenen und siegreichen Gemeinschaft.

Aber wie können sich all diese Menschen verständigen? Menschen, denen nur die Flucht vor ihrer ursprünglichen, jeweils völlig andersartigen Heimat gemein ist? Diese Umgangskultur muss einfach und unmissverständlich sein. Sie darf keine Zweideutigkeiten oder Nuancen enthalten. Sie muss, ja kann nur oberflächlich sein: du bist, was Du machst, nicht das,  woher Du kommst, oder der Stoff aus dem Dein Körper gemacht ist. Es zählt nur der Entschluss, neu zu beginnen, ein entmaterialisierter Impuls, ein Triumph des Willens. Wenn alle Menschen das Gleiche wollen und es auch sind, wozu soll man dann überhaupt kommunizieren? Vielleicht über Konkretes und Naheliegendes, niemals aber über die Grundfesten des Daseins.

Und all das ist geformt von Einwanderern, ohne die dieses Land überhaupt nicht existieren könnte.

Eine Ausstellung in Boston behauptet, Deutsche bildeten die größte Immigrantengruppe, die jährlich in die USA einwandern. Was wäre unser Land wohl ohne Auswanderer? 

Kurz nachdem mein Flugzeug wieder über den Atlantik Richtung Osten gestartet ist, erblicke ich noch kurz die New Yorker Skyline. Man kann es drehen und wenden, wie man will, aber es ist dort eine große, gähnende Lücke zu sehen, inmitten des so undurchdringlich scheinenden Wolkenkratzerdickichts und inmitten dieser Menschheitsarche. Amerika ist nicht unbesiegbar, leider. Sonst wäre es weniger gefährlich und paranoid und vielleicht tatsächliche eine bessere Welt für alle.

Zurück im alten Berlin fällt mir wieder eine Bemerkung des Kanadiers Andrew ein: „Amerika hat seine Pubertät im Gegensatz zu Europa noch nicht hinter sich.“

Vielleicht dauert es ja gar nicht mehr lange, bis die postpubertäre Depression und Erlahmung hierzulande einer besonnenen und selbstbewussten Reife weicht.

 

 

 

Dr. Zellstoff, Mai 2005