Russland

Artikel für die Potsdamer Unizeitschrift „BERND“ Herbst 2005

 


Warum nicht mal nach Russland fahren? Das ist doch gar nicht so weit, man kommt ja fast schon mit dem Semesterticket hin, nicht viel weiter als nach Italien oder Norwegen.

Aber sobald man versucht hat, das Konsulat zu betreten, spürt man, dass man in Russland in einer ganz anderen Liga spielt. Mit dem Flugzeug ist es nur ein Katzensprung, aber mit dem Zug fährt man über die Ukraine etwa fünfzig Stunden bis Moskau, und nach weiteren fünfzig ist man in Tomsk. Dorthin sollte ich zu einem Sprachkurs fahren.

In Berlin Lichtenberg steigen wir in den Zug und die rätselhafte Melodie Russlands beginnt uns zu erfassen. 

Zuerst dringt sie ganz allmählich und leise zu uns, als uns zum ersten Mal die kunstvollen Rüschenvorhänge im Abteil ins Auge fallen. Lauter wird sie östlich von Polen mit einer neuen Eisenbahnspurweite und mit Grenzbeamtinnen in bedrohlich spitzen Schuhen.

Östlich von Moskau kommt zweimal täglich der Schaffner herein und saugt unser Abteil. Über dem Zugfenster befindet sich ein großer runder Knopf. Wenn man ihn dreht, kommt russische Musik aus der Decke, meistens Techno, zu meinem großen Erstaunen auch gerne die Gruppe Dschingis Khan, die dann laut und auf deutsch „Russland, Russland!“ rufen.

Draußen zieht riesenhaft und einförmig die über tausende von Kilometern gleiche Landschaft an uns vorüber: Birken, Sumpf und Fichten, ausgebreitet auf einer über die Grenzen der Vorstellungskraft gedehnten Ebene.

Nach guten hundert Stunden Fahrt, vorbei an riesigen Wäldern und Sümpfen und Städten und versprengte Städtchen taumeln wir aus dem Zug., die Station heißt Tomsk 1, im Westen der gewaltigen Weiten Sibiriens.

Wir werden empfangen und auf Wohnheime und Familien verteilt. Für uns ist frühester Morgen, hier allerdings schon Mittag. Aber sonst sieht alles verblüffend ähnlich wie im fernen Mitteleuropa aus.

Ein Teil der männlichen Mitfahrer, zu dem auch ich gehöre wird von einer Russin im Taxi mit nach Hause genommen. Dort erwartet uns die ganze Familie. So denken wir zumindest. Der einzige anwesende Herr, der uns im Gegensatz zu den Damen mit Handschlag begrüßt, verschwindet bald. Die Damen hingegen umsorgen uns, als wären wir Fürsten oder Schoßhunde. Fantastisch. Ein gewaltiges Bankett wird aufgefahren. Wir essen und essen. Für uns ist zwar immer noch Morgen, aber irgendein Schwager habe da etwas ganz Feines, Goldwurzel hieße das. Wir trinken artig. Irgendwann stellen wir fest, dass eigentlich nur Frauen außer uns dreien da sind und das Appartement bewohnen: die Großmutter, die keiner mehr verstehen kann, die Mutter, die immer gerne Bilder zeigt, die ihre Töchter gemalt haben, außerdem noch die ältere Tochter und die jüngere, die uns umsorgen.

Aber an diese Damendichte müssen wir uns in den nächsten Wochen gewöhnen. Eine unüberschaubare Anzahl von Kusinen und Freundinnen strömt beständig durch die Wohnung unserer Gastgeber. Und nie versäumt man es, sie uns vorzustellen. Auch auf der Straße wimmelt es von Frauen. Die Höhe ihrer Schuhabsätze übersteigt nicht selten die Kürze ihrer Röcke. Grell geschminkt stolzierten sie da umher, ehrfurchtgebietend, begleitet vom unbezwingbar strengen Klacken ihrer Absätze.

Und die russischen Männer? Sie scheinen all das mit stoischer Ruhe geschehen zu lassen. Schließlich machten Sie ihnen ja auch das Essen und den Haushalt.

Die kleinere der beiden gastgebenden Schwestern erklärt mir irgendwann, dass wir deutschen Männer eigentlich zu bemitleiden seien. Unsere Frauen gäben nicht acht auf sich, und erst recht nicht auf uns Männer. Außerdem würde unser Sozialsystem uns verweichlichen. Wieso sollte man denn Geld fürs Nichstun bekommen?

Ein anderer Russe gibt mir zu verstehen, dass wir Deutschen mit unserem Umweltschutz und Ökowahn ziemliche Trottel seien. Unsere führende Position in der Atomkraft hätten wir ahnungslos abgegeben und ohne Not verspielt. Im Übrigen verstünde er nicht, warum ich ihn besuchte und nicht er mich, schließlich haben sie den Krieg gewonnen und nicht umgekehrt.

Eines Nachts in Tomsk fahren wir mit dem Taxi von der Disko nach Hause. Als der Taxifahrer erkennt, dass wir einen merkwürdigen Akzent haben, fragt er unsere Gastgeberin, aus welcher Republik die Witzbolde denn kommen. Sowjetrepublik meinte er wohl. Selber Witzbold, radebrechten wir da in Russisch zurück, aber dem Taxifahrer gefällt das irgendwie, entweder er sich als Witzbold oder Deutschland ihm als Sowjetrepublik. Das Taxi rollt derweil an einer Leiche vorbei, die neben einem Polizeiauto und einer Menschenmenge auf dem Asphalt liegt.

Um auch die russische Melodie der Wildnis zu hören werden wir zu einem Studentenlager draußen in der Taiga gebracht. Dort dürfen wir ein lustiges Spiel spielen, mit dem eigentümlichen Namen "Vergewaltigung", so übersetzt man uns wenigstens. In einem großen Kreise stehend sollte man schneller als die Gegenspieler, die in der Mitte stehende Person küssen.

Später treibt uns die Melodie noch tiefer ins Land hinein, wir fahren einige Tage mit einem Boot den großen Strom Ob herauf. Mir dämmert, warum ein deutsches Umweltbewusstsein in diesem Land nicht nur unverständlich, sondern absurd erscheint. Unendlich erstreckt sich die Ebene um uns, dicht mit Wald bewachsen, menschenleer und ganz frisch erst aus dem Ei der Schöpfung gepellt und gleichzeitig älter als jedes Menschengeschlecht. Man kann hier Müllsäcke in den Wald werfen soviel man will, nie wird ein Mensch sie wieder sehen, zu weit und grenzenlos der Raum. Entsprechend entsorgen auch die Schiffsjungen unsere Abfälle. Die Natur scheint sich hier um derlei nicht im Geringsten zu kümmern. Kein Nachbar hinter jedem Gebüsch, der einen schelten könnte. Stattdessen Myriaden von gesichtslosen Mücken, die unerbittlich aus den Wäldern quellen und einen plagen und die Luft mit einem sonoren, bedrohlichen Brummen erfüllen. Für festgenagelte menschliche Gesetze scheint dieser Boden zu gewaltig und zu unermesslich: „Russland ist groß, und der Zar ist weit.“, heißt es.

An einem Tag geht der Schiffschef an Land um Fleisch zu kaufen. Nach ein paar Stunden kommt er unverrichteter Dinge zurück.  Grinsend berichtet er von einer einzigen Person, die er getroffen habe und die trotz Trunkenheit noch habe sprechen können. Sie habe ihm gesagt, dass heute Montag sei, es gerade Arbeitslosengeld gegeben habe und es deswegen erst einmal kein Fleisch gebe. So ganz kann ich ihm nicht glauben, aber er fügt noch hinzu, wer morgens Wodka trinke, der habe den ganzen Tag frei.

Aber mühsam müssen wir  uns wieder losreißen von den Geheimnissen der Wildnis. Unsere Zeit in Tomsk ist ehe wir auch nur einen Bruchteil begreifen konnten schon abgelaufen. Wir verabschieden uns von den liebenswürdigen Menschen,  die uns beheimateten.

Nach Moskau sollen wir nun für eine kurze Woche. In rasender Schnelle überbrücken wir den Weg mit dem Flugzeug und schlagen auf in der russischen Hauptstadt. Hier will man von uns deutschen Studenten nichts wissen. Die feine Melodie wandelt sich in ein dröhnendes Brausen. Als Bittsteller, die wir sind, werden wir empfangen und missmutig ins Epizentrum durchgelassen. Streunende Hunde bellen uns an und sehnsüchtige Sänger wollen uns Rubel aus der Tasche locken.

Zu unserer eigenen Versorgung wird uns für die Mensa des Wohnheims, in dem wir untergebracht sind, eine Karte mit Nummer ausgeteilt. Wenn man uns dort überhaupt beachtet, brüllt man uns entgegen, wir sollten unsere Nummer sagen und ja nicht mehr als zweihundertzwanzig Rubel (ca. sieben Euro) verfressen .

Tief aus dem Inneren des Großstadtlärmes treibt es uns wenige Tage später zusammen mit Hunderttausenden heraus auf eine Flugschau. Migs donnern durch Luft und vollführen unter tosendem Beifall der Menge schier unglaubliche Manöver. Jagdflugzeuge stehen auf einer zugänglichen Landebahn, abgesperrt und streng bewacht. Uniformierte stehen finster und kompromisslos an allen Seiten der Zäune. Wer diesen Zaun auch nur anrührt, so denke ich mir, dem ergeht es übel. Eine russische Familie bleibt neben mir stehen. Fröhlich unterhalten sie sich und betrachten das waffenstrotzende Flugobjekt. Da geht eins der Kinder auf den Zaun zu. Ich ahne Schreckliches.

Was geschieht da aber? Die Mutter kommt hinterher, schließlich auch der Vater und die andern Kinder. Plötzlich macht sich die Mutter am Zaun zu schaffen. Ich erschaudere. Die Mutter hat den Zaun auseinander geschoben. Das erste Kind flitzt vergnügt durch den entstandenen Spalt, dann die Mutter und der Rest der Familie. Fassungslos sehe ich einen der Uniformierten freundlich der Familie zuzwinkern. Der Zaun bleibt offen, die Uniformierten gelassen und ich verstört. Ein paar mehr Passanten strömen noch zum Flugzeug hinein und betasten es neugierig. Nach einer Weile gehen sie wieder hinaus. Als sich niemand mehr für das Flugzeug interessiert, macht der Uniformierte den Zaun wieder zu.

Als ich zurück in Moskau an einem der letzten Tage ohne jede Hoffnung auf Erfolg die Mensafrau um Nachschlag für den verbleibenden Betrag von 7 Rubeln (ca. 20 Cent) bitte, häuft sie mir unter mütterlich besorgten Ausrufen den Teller übervoll, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres. Ich verstehe gar nichts.

 

Langsam verklingt die Melodie Russlands wieder, als wir uns auf die Rückreise nach Potsdam machen.

Die russische Welt entlässt uns in unsere vertraute Welt. Aber die ist jetzt nicht mehr ganz dieselbe. Irgendwo ist da etwas zwischen den Dingen sicht- oder hörbar geworden: ein tiefes, vielleicht niemals ganz ergründliches Geheimnis.

 

 

nvf, Okt ´05